Vortrag
Gemeindeinformation Derendingen, 25.10.11
Sehr geehrte Anwesende, liebe Nachbarn, werter Herr Tschumi
Ich heisse Willi Ingold, bin 1956 geboren. Meine Mutter stammt aus Aarwangen und mein Vater Ernst aus dem Oberdorf in Derendingen. Nach der Schulzeit in Aarwangen habe ich den Beruf des Schriftsetzers erlernt, habe nach der Lehre mehrere Jahre in einem Berner Buchverlag gearbeitet und war 1986 das erste Mal in Derendingen ansässig. In dieser Zeit habe ich als Bildautor das Werk «Mehr Natur in Derendingen» zusammen mit der Energie und Umweltkommission realisieren dürfen. Später habe ich auch in Solothurn und Langendorf gelebt und 10 Jahre lang ein eigenes Atelier für Gestaltung betrieben. Seit 2003 lebe ich mit meiner Frau Lepa hier im Elsässli Quartier. Heute arbeite ich mit psychisch Behinderten Menschen im Wohnheim Wyssestei in Solothurn und mache auch heute noch Gestaltungsarbeiten im meinem Atelier natürlichgrafik hier im Elsässli mit Aufträgen vorwiegend aus dem Natur- und Umweltbereich.
Mein Vater: Mit ihm bin ich als kleiner Junge oft von Aarwangen nach Derendingen gekommen. Wir sind mit der OJB von Aarwangen nach Langenthal gefahren und dann via Herzogenbuchsee nach Derendingen gekommen. Mein Vater hat mir viel erzählt von seiner Jugendzeit hier im Dorf, das zu dieser Zeit, in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts vorwiegend ein Bauerndorf war. Er hat erzählt, dass er hier im Quartier im Restaurant «Bären» am Sonntagnachmittag, wenn die Herren kamen, die Kegel gestellt hat und sich ein kleines Sackgeld verdient hat. Oder dass die Buben Fussballspiele im Dorf organisiert haben, Oberdorf gegen Unterdorf z.B. Er war einer der Mitbegründer des Jodlerclubs «Zytröseli» wo er später Ehrenmitglied wurde.
Damit habe ich in meinen Erzählungen vielleicht ein wenig vorgegriffen: Mein Vater ist 1909 hier geboren worden. Die Industrialisierung hier im Wasseramt ist schon im vollen Gang gewesen.
Aber reden wir jetzt über die Anfänge der Industriealisierung hier in unserem Gebiet:
«Wasseramt» bezeichnet einerseits einen der dichtbesiedeltsten Bezirke im Kanton Solothurn. Andererseits steht der Name auch für die wasserreiche Landschaft an den Unterläufen von Emme und Oesch im solothurnischen Mittelland. Diese weite Schotterebene ist entstanden in der so genannten Würmeiszeit (80’000–10'000 vor Christus) durch das Vordringen des Rhonegletschers und durch das Geschiebe von den Schmelzwasserflüsse bei seinem Rückzug. Mit Sicherheit sind Strassennamen in unserem Dorf, wie Steinmattstrasse, auf diese Umstände zurückzuführen. Die heutige Emme, die am Hohgant in der Nähe des Brienzersees entspringt, nimmt ihrerseits oberhalb von Burgdorf durch verschiedene Zuflüsse stattliche Dimensionen an. In früheren Zeiten hatte der Fluss einen ausgesprochenen Wildbachcharakter. Heute ist die Emme zum grössten Teil begradigt und die Ufer verbaut. Mit viel Anstrengung wird heute, zum Beispiel in Biberist, die Emme renaturiert um ihr wieder einen naturnaheren Charakter zu geben.
Um 1850 hatte man eine andere Sicht auf diese Dinge. Man wollte sich die Wasserkraft zu Nutze machen. Wasserkraft wurde genutzt von zahlreichen Gewerbebetrieben wie Mühlen, Stampfen, Hammerwerken oder Oelen. Mit der gegen Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Industriealisierung hat sich vieles verändert. Um die Ansiedlung von Fabriken überhaupt zu ermöglichen, musste das vorhandene Potenzial an Wasserkraft zuerst effizienter genutzt werden. So machte man sich ab 1858 an die Planung des Emmekanals, der von 1859 bis 1886 in drei Etappen verwirklicht und anschliessend von verschiedenen Fabriken als Energiequelle genutzt werden konnte.
Was blieb, waren die regelmässig wiederkehrenden Überschwemmungen. Diese konnte man erst mit der 1876 bis 1889 ausgeführten Korrektur des Emmelaufes eindämmen. Eine grosse Rolle spielte auch die ausgeführte Juragewässerkorrektion. So präsentiert sich heute das Gebiet des Emmelaufes als eine industrialisierte Landschaft, in der nicht nur Fabriken und ihre Kraftwerke, sondern in besonderem Mass auch kanalisierte Gewässer ein prägendes Element darstellen.
Fabriken
Neue Fabriken sind entstanden, so zum Beispiel die von Roll’schen Eisen- und Stahlwerke in Klus bei Balstahl und Gerlafingen, später in Schönenwerd (Schuhfabrik Bally) in Grenchen die Uhrenindustrie, die Papierfabrik Biberist wurde gegründet, die Cellulose Attisholz und Cementfabrik Vigier in Deitingen. Am stärksten vertreten in der Schweiz im 19. Jahrhundert war die führende Textilbranche mit der Baumwollspinnerei Emmenhof (1864) und der Kammgarnspinnerei 1874.
Eisenbahn
Die Geschichte der Industriealisierung ist eng mit dem Ausbau der Verkehrswege und ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Bau der Eisenbahn verknüpft. In unserer Region wurden innerhalb von zwanzig Jahren drei Bahnlinien eröffnet. 1856 die Linie Solothurn Herzogenbuchsee, die Solothurn den Anschluss an das Netz der Schweizerischen Centralbahn brachte. Dann 1875 die Emmentalbahn Solothurn Burgdorf und schlussendlich die Gäubahn, entlang dem Jurasüdfuss von Solothurn nach Olten. Die neuen Fabriken haben natürlich Interesse an einen Anschluss gezeigt.
Der Bahnhof Derendingen entstand in den 1870er Jahren im spätklassizistischen, damals für ländliche Bahnhöfe üblichen Stil mit einem Perrondach auf eisernen Trägern und Stützen. Im heutigen Restaurant im Bahnhof Derendingen ist ein Bild zu sehen, wo die Züge noch mit Dampf verkehrten.
Elektrizität
Unsere Region war ausserdem Schauplatz einer industriegeschichtlichen Sternstunde. Hier ist eine der frühesten elektrischen Kraftübertragungen über lange Distanz in Europa entstanden. Man baute überall Wasserkraftwerke, von denen einige bis heute im Betrieb sind. Dabei spielte auch ein junger Ingenieur Charles Brown eine wichtige Rolle. Brown war später ein Mitbegründer der Firma Brown Boveri in Baden.
Das Wasserkraftwerk Luterbach ist eng mit der Geschichte der ehemaligen Kammgarnspinerei verknüpft. Es ist klar, dass die Industrien ständig mehr Strombedarf hatten und nach neuen Quellen suchten. Später als es Versorgungsengpässe gab, sind wichtige neue Energiearten wie Dampfkraft, Dieselmotoren, (die Firma Sulzer in Winterthur baute) und Fremdstrom dazu gekommen.
Kommen wir zurück nach Derendingen zur Kammgarnspinnerei.
«Garn» ist ein althochdeutsches Wort und bezeichnet ursprünglich eine aus getrockneten Därmen gedrehte Schnur. Heute benennt der Begriff ein fadenförmiges Textilerzeugnis, das durch ein mechanisches Spinnverfahren aus unterschiedlichen Fasermaterialien wie Wolle, Baumwolle, oder synthetische Fasern gewonnen wird. Wie der Name sagt, handelt es sich beim Kammgarn um gekämmtes Garn, welches sich durch eine grosse Regelmässigkeit und einer feinen und glatten Oberfläche auszeichnet.
Geschichte
Die Kamgarnspinnerei Derendingen ist 1872 als dritte Fabrik ihrer Art in der Schweiz gegründet worden. Die Firma hatte anfänglich trotz rosigen Zukunftsaussichten wenig Erfolg und schon bald redete man wieder über eine allfällige Schliessung. Erst die Übernahme durch die erfahrenen Unternehmer Ludwig Lang-Neher, dem früheren Direktor der Kammgarnspinnerei Schaffhausen und Alexander Koch aus Zürich im Jahre 1879, haben den gewünschten Erfolg gebracht. In dieser Zeit ist der Betrieb ständig ausgebaut worden und die Leistungen der Kraftwerkanlagen wurden vervierfacht. Immer mehr Spindeln haben gedreht und die Arbeiterzahl nahm auf über 600 Personen zu.
Zu Beginn des 20 Jahrhunderts kamen schon neue Probleme dazu, ausgelöst durch den starken Sturz der internationalen Rohwollpreise. Es kamen Brände dazu die Teile der Fabrik zerstörten und einen Neuaufbau nötig machten. Bereits 1902 ist die Krise aber überwunden worden und 1907 folgte die Fusion mit dem ältesten Betrieb dieser Art in der Schweiz, der Kammgarnspinnerei Schaffhausen, zu den Vereinigten Kammgarnspinereien Schaffhausen und Derendingen ist Realität geworden. Damit entstand ein Grossunternehmen, das allein in Derendigen 1100 Arbeiterinnen und Arbeitern beschäftigte und in der Lage war, jährlich 760 Tonnen Garn und zwei Millionen Meter Gewebe zu produzieren.
Wie sah unser Dorf damals aus, wie lebten die Leute.
Derendingen war ein Bauerndorf. Man kann sich vorstellen, dass viele dieser Leute mit den neuen Techniken die die Kammgarnspinnerei forderte, nicht zu Gang kamen. Die anfänglich mehrheitlich aus Schweizer/Innen bestehende Arbeiterschaft musste ergänzt werden. Es kamen Leute aus dem Elsass, aus Italien, Spanien, aus Griechenland und später vor allem aus der Türkei. Derendingen ist multikulturell geworden.
1987 schloss die Nachfolgefirma der Kammgarnspinnerei, die Schoeller Textil AG, ihren Betrieb in Derendingen. Verschiedene Gebäude auf dem Fabrikareal wurden ab 1990 teilweise abgebrochen und durch eine neue Industrieanlage der Scintilla AG ersetzt. Erhalten hat sich hingegen das fabrikeigene Wohnquartier Elsässli mit den ehemaligen Arbeiter- und Angestelltenhäusern.
Und von diesem Quartier wollen wir hier noch näher berichten.
Wir sind hier auf dem Parkplatz des Restaurant Widder, das um 1880 als Mehrfamilienhaus errichtet wurde und 1922 seine heutige Gestalt erhielt.
Elsässli
Bereits kurze Zeit nach der Gründung der Kammgarnspinnerei Derendingen, im Jahr 1872, hat man in unmittelbarer Nähe der Fabrikbauten mit der Errichtung der Arbeitersiedlung Elsässli angefangen. Der Name weist darauf hin, dass in der Anfangszeit der Kammgarnspinnerei erfahrene Arbeiter aus dem Elsass herangezogen werden mussten, da qualifizierte einheimische Arbeitskräfte fehlten. Später hat die Siedlung attraktiven Wohnraum für die Arbeiter der Region dargestellt. Die Fabrikanten bauten die Häuser auf eigene Kosten und vermieteten sie anschliessend an die Belegschaft.
Ein nicht unwesentlicher Teil eines solchen betrieblichen Wohnungsbauprogrammes war aber auch die Absicht, den Arbeiter und seine Familie fester an das Unternehmen zu binden. Es war damals nämlich üblich, das Miet- und das Arbeitsverhältnis eng miteinander zu verknüpfen. Der Verlust der Arbeit hat somit in der Regel auch den Verlust der Wohnung bedeutet.
1945 erhielt ein Arbeiter in der Kammgarnfabrik 1.10 Franken Stundenlohn. Die anderen Fabriken in der Nähe bezahlten auch nicht viel mehr. Und für eine Mietwohnung musste man Fr. 40.– Mietzins bezahlen.
Eine Flasche Bier in der Wirtschaft kostete 70 Rappen.
Dies führte zu einer Disziplinierung des Arbeiters, die sogar soweit ging, durch Hausreglemente betreffend Ordnung und Reinlichkeit auch dessen Privatleben zu kontrollieren. Auf diese Weise vermittelte der Unternehmer seinem Arbeiter das Ideal der bürgerlichen Familie und deren Werte.
Geschichte
In zwei Etappen von 1873 bis um 1890 sind insgesamt 27 Wohnhäuser und ein Kosthaus für 80 Arbeiter entstanden. Die Pläne hat der aus Langendorf stammende Baumeister Peter Meinrad Felber geliefert. Während die erste, kleinere Serie als verputzte Fachwerkbauten erstellt wurde (Beispiel Bankgasse 2), ist die zweite in Sichtmauerwerk aus Zementsteinen ausgeführt (Beispiel Krempelgasse 2). Um 1890 baute man das Kosthaus zu einer Bank, später zu einem Mehrfamilienhaus um. Die Häuser sind in den Jahren 1920/21 durch den Solothurner Architekten Emil Altenburger renoviert worden. Auch spätere Renovationen und Umbauten gingen sorgfältig mit der vorhandenen Bausubstanz um, so dass das einheitliche Erscheinungsbild der Siedlung bewahrt werden konnte. Die Häuser blieben immer Eigentum der Fabrik. Nach deren Schliessung übernahm 1988/89 die Einwohnergemeinde Derendingen, nach Beschluss an einer denkwürdigen Gemeindeversammlung die gesamte Siedlung und gleichzeitig hat sie der Kanton unter Denkmalschutz gestellt.
Die 27 Wohnhäuser des Elsässli sind in regelmässigen Abständen entlang der Bankgasse, Industriegasse, Krempelgasse, Spinngasse und Webergasse angeordnet. Noch heute erinnern also diese Strassennamen an die ehemalige Spinnerei. Die rasterartige Anordnung bestimmt das Bild der Siedlung, und dadurch unterscheidet sie sich deutlich vom übrigen Siedlungsbild des Dorfes. Die zweigeschossigen Häuser weisen ein schlichtes und gleichartiges äusseres Erscheinungsbild auf. Zu jedem Haus gehört ein Garten, der von einem Staketenzaun eingefasst ist.
Jedes der Häuser hat ursprünglich Platz für vier Familien geboten. Diesen Sommer habe ich mit drei älteren Herren geredet die an der Krempelgasse 6 sind geboren wurden und nach vielen Jahren zurück kamen und ihr Elternhaus sehen wollten.
Im Erd- und im Obergeschoss sind je zwei kleine sehr einfache Wohnungen mit eigenem, über seitliche Holzlauben erschlossenem Eingang. Von der Laube – auf der für jede Familie auch ein Abort zur Verfügung stand – gelangte man in die zentrale Küche, die zwischen einem grösseren 16m2 grossen und einem kleinen 11m2 Zimmer lag. Die Bewohner der Obergeschosswohnungen konnten zusätzliche Zimmer auf dem Dachboden, so genannte «Afterzimmer» nutzen. Heute befindet sich auf jedem Geschoss nur noch eine Wohnung, die Vierfamilienhäuser wurden also in Zweifamilienhäuser umgewandelt.
Man muss sich vorstellen, dass auf so kleinem Raum die Eltern mit 6 und zum Teil noch mehr Kindern lebten!
Bedeutung
Beim hier angewandten Arbeiterhaustyp handelt es sich um eine Abwandlung vom kurz nach 1850, im Elsass, Mühlhausen, Cité Ouvrière, entwickelten und in Europa oft kopierten Modell.
Die gesamte Siedlung gilt heute als hervorragendes Zeugnis der Industriealisierung der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie stellt in seiner Grösse und Einheitlichkeit eines der bedeutendsten Beispiele eines Arbeiterdorfes in der Schweiz dar.
Östlich des Elsässli entstanden 1912/13 an der Textilgasse vier so genannte Meisterhäuser vom Architekten Hector Egger aus Langenthal. Auch an der Luterbacherstrasse finden sich weitere, ehemals zum Ensemble der Kammgarnspinnerei gehörende Gebäude und eine ebenfalls von Hector Egger gebaute Direktorenvilla mit einem grossen Park.
Ich hoffe, dass ich mit diesen Ausführungen Euch einen Einblick in diese Zeit geben konnte und bedanke mich für Eure Aufmerksamkeit.
Informationen:
Stephan Blank
Der Industrielehrpfad Emmekanal im solothurnischen Wasseramt
Gespräche mit Leuten aus dem Quartier
Kammgi: Buch mit Beiträgen von Hansruedi Riesen